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Die Kunst der Rastlosigkeit

Oder wie man in Seine Mitte kommt, auch wenn man immer so schnell wieder weg ist


Irgendwann hat mir eine nette Frau Doktor ADHS diagnostiziert. Allerdings muss ich zu ihrer Verteidigung erwähnen, dass ich es war die gefragt hat,  ob ich denn womöglich unter diesem Phänomen leiden könnte. Mit einem Gespräch und ein paar Tests bzw. endlosen Fragebögen bestätigte sie mir: "Ich denke, Sie sind betroffen. Vielleicht holen sie sich in der Apotheke die homöopathischen Tropfen "Zappelin", dann lässt es sich damit ganz gut leben." Nein - ich habe mir keine Tropfen aus der Apotheke geholt.

 

Zappelin bei adhs - eine mögliche lösung

 

Mir ist durchaus bekannt und bewusst, dass diese Sache –dieses ADHS – sehr unterschiedliche Emotionen, Diskussionen und Meinungen in der Bevölkerung auslösen kann.  Während die einen behaupten, es handle sich um eine reine Erfindung der Gesellschaft, würden die anderen am liebsten sofort Pillen in DAS nervige zappelige Kind schmeißen, damit es endlich einmal die Klappe hält und nicht das Haus demoliert bevor Mann (oder Frau) gezuckt hat.

 

Warum wollte ich wissen, ob ich "Betroffen" sein könnte?

Habe ich womöglich auf Mitleid oder Nachsicht spekuliert?

 

Als hyperfocussierender Prokrastinierer hilft mir die Diagnose ehrlich gesagt wenig. Menschen mit meinen Eigenschaften freuen sich jedoch, wenn sie sich und ihre Macken in einem Buch als „normal“ und „typisch für...“ verstanden fühlen.

 

Seit meinen Kindertagen leide ich unter einigen schlechten Angewohnheiten oder Eigenschaften, die meine Umwelt nicht immer mit Humor nimmt. Ich vergesse selbst die Geburtstage meiner Eltern und meiner Schwester. Ich melde mich so gut wie NIEMALS freiwillig bei irgendwem, weder bei der Familie noch bei sehr lieben Freunden telefonisch. Das Zeitalter von WhatsApp erlaubt schnellere Kommunikation, aber

wirklich verbessert hat sich meine "Meldefreudigkeit" nur geringfügig.

 

Anja Speer, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Hypnosetherapie, Stressbewältigung, Entspannung, Oldenburg
Ich bin nicht perfekt und ich stehe dazu!

Ich leere den Briefkasten erst, wenn die Post heraus quillt oder aber der Briefträger ein Schildchen "bitte leeren" aufklebt. Ich öffne Post ungern bis gar nicht , egal wie wichtig sie aussieht.  (Wichtige Post ist eher ein Hinweis auf NICHT öffnen, denn öffnen könnte Handlungen nach sich ziehen.)

 

Ich entdecke deswegen auch Rechnungen oder wichtige Behördenpost in der Regel erst mit der dritten Mahnung. Oder aber wenn der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht, weil ich eben auch die dritte Mahnung (und alle weiteren) "übersehen" :-)  habe. (Ok - das ist erst zweimal passiert und liegt viele Jahre zurück.)

 

Kann man sein eigenes Kind vergessen?

 

Ich esse unregelmäßig und am liebsten Unsinn. Ich lerne nur, was mich 1000% fasziniert. Für mein Abitur z.B. hatte ich Lektüren im Deutsch Leistungskurs nicht zu Ende gelesen, was aber nicht weiter aufgefallen ist, weil Phantasie und Interpretationsfähgikeit ausgeprägt vorhanden sind.

 

In meiner Ausbildung habe ich eine schriftliche Facharbeit leider zu spät abgegeben, weil eine Salmonellenvergiftung mit Fieber und Schüttelfrost den Endspurt (ich hatte drei Monate Zeit, habe aber erst 2 Wochen vor dem Abgabetermin mit dem Schreiben angefangen) meines geliebten "Ich bin in der aller letzten Sekunde sowieso am besten - Systems" zum Erliegen gebracht hat.

 

Ich gieße Blumen erst kurz vor oder kurz nach ihrem Absterben, und  es gibt tatsächlich ein paar Pflanzen, die mit dieser Art von Pflege zurechtkommen. Eine Palme begleitet mich bereits seit 31 Jahren und hat selbst einen Schwelbrand überlebt.

 

Ich vergesse Kinder an Sporthallen. (Solche Geschichten bekommt man noch Jahre später vorgehalten.)  Ich fange alle drei Tage ein neues Thema an und sauge in kürzester Zeit enorm viel Wissen in meinen kleinen Schädel. Nach drei Tagen langweilen mich die meisten Themen aber wieder.

 

Ich lese 10 Bücher gleichzeitig und die wenigsten davon zu Ende. Wenn ein Buch mich derart fesselt, dann muss ich es in einem Rutsch verschlingen und stelle dafür auch das Schlafen ein.

 

Ich habe ca.. 47586 Pläne erstellt und halte mich an keinen länger als 48 Stunden

 

Bin ich womöglich ein fauler und schlechter und undisziplinierter Mensch? Mit der Ausrede ADHS oder was für einer Diagnose auch immer?

 

Ich meditiere fast täglich 30 – 45 Minuten, gebe Entspannungskurse und liebe es drei Stunden mit Klienten ins Gespräch vertieft zu sein. Wenn ich erleben darf, wie Menschen ihre Lebensthemen bearbeiten und sich neue Türen für sie auftun, dann kann ich Stunden lang ruhig sitzen. Mein rastloser Geist kommt zur Ruhe, wenn ich arbeite, wenn ich in Kontakt komme. Wenn ich da bin, wo ich sein will. Bei Menschen und mit Menschen.

 

Selbst während eines fünfstündigen Gesprächs verspüre ich keinen Funken Ermüdung und schlafe doch danach fast im Stehen ein.

 

Es ist kein leichter Weg, wenn man immer wieder an dieses Wort „Disziplin“ gerät, und wenn einem immer wieder vermittelt wird, dass mit ein bisschen Disziplin alles geht. "Wenn du dich zusammenreißt, dann schaffst du das." – Wie oft habe ich diesen Spruch gehört? Oder "das Leben ist kein Ponyhof..." - "Erst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen..." 

 

Disziplin ist nicht das Zauberwort – das Zauberwort heißt „Leidenschaft“ -brenne für das, was du tust!

 

An alle da draußen: Vielleicht verzweifelst du auch sehr oft an dir, weil du undiszipliniert und scheinbar faul bist. Weil du nicht „normal“ Dinge von A – Z  abarbeitest. Du bist chaotisch, sprunghaft, wild, querbeet und hasst alle Regeln, die andere dir aufstellen. 

 

Suche nicht mehr verzweifelt nach deiner Disziplin, sondern glaube an deine Leidenschaft. Vielleicht bist du ein mieser Team-Player, weil du mit deiner Vergesslichkeit die Menschen in den Wahnsinn treibst. Vielleicht bist du anstrengend für deine Freunde, weil du sie locker ein halbes Jahr vergisst und dennoch lieb hast. Vielleicht wechselst du ständig den Job, weil es immer etwas NOCH Spannenderes zu entdecken gibt.

 

Pixabay, Anja Speer, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Hypnosetherapie, Stressbewältigung, Entspannung, Oldenburg
Auch im wogenden Meer ruhe ich in mir!

Du bist nicht falsch, du bist nur anders. Du lebst dein volles Potential, wenn du brennst – du lernst 1000mal besser und schneller, wenn du mitten in deiner Leidenschaft steckst. Du bist vielleicht rastlos und doch total zufrieden im Hyperfocus.

 

Mir ist es egal, ob es ADHS heißt (oder anders oder gar nicht). Ich benötige keine Pillen und keine Diagnose für mein Glück. Auch wenn mein Innerstes oft einem aufgewühlten Ozean gleicht, aber durch Meditation und Selbsthypnose habe ich meinen Weg gefunden in diesem Ozean zu schwimmen und mein Leben zu gestalten. Ich möchte nicht auf meine Fähigkeit verzichten, im  Hyperfocus 10 Stunden über einem Thema zu brüten und am Ende tolle neue Erkenntnis gewonnen zu haben.

 

Das ist Leben - mein Leben!

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Kommentare: 1
  • #1

    Angelika Röske (Sonntag, 11 März 2018 09:43)

    Liebe Anja,
    deine Worte haben mich tief berührt, und ich finde, es gehört viel Mut dazu sein “ INNERSTES nach AUSSEN“ zu stülpen und zu zeigen.
    Nobody is perfect, und das ist gut so!!!! Man muss für sich selbst den richtigen Weg finden, und du hast deinen Weg, und dein Glück �❤️ gefunden. Auch wenn man damit nicht immer ganz so pflegeleicht ist �.
    Nichts desto Trotz ist es ja manchmal auch nicht ganz unwichtig teamfähig zu sein, und den ein oder anderen GESUNDEN Kompromiss einzugehen, denn das finde ich auch ganz wichtig in einer Gemeinschaft, Freundschaft oder Partnerschaft.

    Und dann gitb es auch Menschen, die wie Palmen sind .... und denen deine Freundschaft mehr wert ist, als Perfektion und Disziplin �